Windungen und Durchstiche 

Zu der Zeichnungsserie „Abenteuer der Zweisamkeit“ von Linde Unrein

Linde Unreins Bilder sind radikale Behauptungen. Verletzungen, Gewalt, Vereinzelung, Verknotungen, Grenzziehungen und das Ausloten von Distanzen – aus dem Speicher dieser Körpererfahrungen entwickeln sich eindrückliche Bildfindungen. Es geht nicht um Oberflächen oder Dekoration. Die Malerin und Zeichnerin wird weitergetrieben von ihrem Erkenntnisinteresse existentieller Fragestellungen und ihren subjektiven Wahrheiten. Zwischen den agierenden Elementen entstehen weniger Geschichten; eher werden Stills von Abläufen festgefroren und übereinandergelegt. Maßstabverschoben und bodenlos schieben sich Fragmente von Wirklichkeit neu ineinander. Die Wesen scheinen aus (Alb-)Träumen eingefangen und festgehalten. Das Monumentale, Bildhauerische findet sich in allen Formaten in der Zeichnung und in der Malerei. Die mutigen und dichten Setzungen sind jedoch auch witzig, um jedes Pathos zu vermeiden. Im Übertreiben, im Spiel mit Klischees oder Banalem zeigt sich die Ironie.

Linde Unrein beschränkt sich in der Zeichenserie „Abenteuer der Zweisamkeit“ auf das Schwarz, das sich in Flächen und Linien in größtmöglichem Kontrast zum Blattweiß abhebt. Keine Kolorierungen oder Farbfonds lenken ab von den stempelartigen Setzungen. Der unkorrigierbare Tuschestift setzt Entschiedenheit und Präzisionswillen voraus. Das schwarze Gerüst in Farbstrukturen oder auch das reine, unerbittliche Schwarz gab es schon häufiger in Linde Unreins Arbeiten. Anders ist diesmal, dass sich die graphischen Gebäude wie Piktogramme geben, die wir nicht lesen können. Auf äußerste Knappheit bedacht, komprimiert sie die Handlung auf wenige Zeichen. Hinzugefügte comicartige Striche fixieren zudem Bewegungsabläufe.

Für die 19-teilige Serie entwickelt Linde Unrein ein Vokabular aus organischen und gebauten Formen. Der Betrachter erkennt Pflanzliches, Blüten, Blätter, innere Organe mit Blutbahnen, menschliche Glieder, Landschaftliches mit Wolken oder Pfützen, Kokons oder Strudeln. Dagegen und oft symbiotisch verbunden stehen die architektonischen Elemente wie Bühnen, Etageren, Schlitze und Kästchen, Eckiges und Vergittertes. Prägnant und sparsam umrissen wirken diese Pars-pro-toto-Teilchen wie Stellvertreter für große Einheiten von Welt. Sie falten sich, kippen ineinander, durchdringen sich und formen skurrile Modelle, die man meint nachbauen zu können. Linde Unrein setzt diese Gebäude deshalb gerne ganz in die Mitte des Blattes, dass man sie umrunden zu können meint, wie eine Skulptur. In anderen Arbeiten testet sie auch das Raumsprengende, das randlose Fortwachsen. Auch wenn die Zeichnungen oft signethaft wirken, gibt es immer die notwendige Illusion von Tiefe durch perspektivische Verkürzungen und Überschneidungen.

Die Zeichnungen erscheinen direkt und mit Leichtigkeit gesetzt. Nach einer Phase der Malerei auf großen Formaten entstand wieder die Lust auf das fordernde Spiel auf kleinen Blättern (DIN A4). Den Graphiken geht ein längerer Klärungsprozess mit dem Bleistift voraus. Linde Unrein skizziert eine Idee, präzisiert, radiert aus. Wenn das mit Bleistift erdachte Gebäude tragfähig scheint, legt sie mit Tuschestiften Liniengerüste an. Dies geschieht in extremer Konzentration, denn es gibt keine Korrekturmöglichkeit mehr, und die Striche sollen wagend, direkt-unverkrampft und offen für Veränderungen der Anlage bleiben. Die Flächen folgen am Ende im Abwägen, ob es solcher Dunkelheitswerte überhaupt bedarf und ob sie mit provozierender Ausfüllung geschlossen werden sollten oder durchbrochen von Löchern, Lichtreflexen oder – flimmernd gerichtet – nahezu malerisch bereichern.

Linde Unrein denkt gegenständlich und reagiert mit eigenem Erlebtem auf das Gedicht. Sie fügt Autobiographisches hinzu und erfindet Zeichen für Beziehung und Abstoßung. Die rätselhaften Partikel sind so komplex belegt, stürzen oder bieten sich als Schnittmuster an, das Abstraktionsniveau ist so hoch, dass die Zeichnungen nichts Illustratives an sich haben. Sie sind vielmehr Versuchsreihen mit ähnlichen Anordnungen wie im parallelen Text. Assoziationsreihen können nur unzureichend die Wirkung beschreiben. Eine ergibt sich aus der Abgrenzung und Kampf in Beziehungen: Panzerungen, Schilde, Verschließen, Windungen, und dann seltsame Arten von Blitzen, aggressives Durchstechen, erstickendes Umwabern, Ausbrennen. Immer wieder gibt es Daphne-artige Verwandlungen und damit den Versuch einer Entsexualisierung und Flucht.

Ohne je zu einfach zu werden, führt Linde Unrein auch Möglichkeiten der Vereinigung vor, komische Umhüllungen, Schutz-Geben, heiteres Flattern, phallisches Quellen. Für Zustände von Beziehung findet die Zeichnerin starke Bilder.

 

Bettina van Haaren