Rein in die Bredouille

Rein in die Bredouille

Linde Unrein

Linde Unrein stellt sich der Frage: Wie schaffen wir es, in dieser verrückten Welt zu überleben. Welche Strategien entwickeln wir? Wohl wissend, dass wir der Bredouille nie ganz entkommen und trotzdem nicht aufgeben. Schauen wir uns die junge Frau im Bild „Ecce…“ (Schaut) an. Sie lebt wohl auf der Straße. Blass und kahlköpfig ist sie, das Tier mit den großen Zähnen ist ihr Begleiter. Auch ihr Beschützer?
Diese Hunde tauchen immer wieder in Linde Unreins Bildern auf, sie verkörpern das Animalische, das Gefährliche, das Verschlingende. Darauf hat sich dieses Menschenkind eingelassen, es hat einen schwierigen Weg gewählt oder ist auf einen solchen geraten. Kann sie in dieser Welt überleben?
In „Mind the Gap“ wirkt die Titelfigur stark: eine Kämpferin im Tarnanzug sprengt fast die Leinwand. Aber die Plattform, auf der sie steht, ist zu klein, die Frau schwankt, tritt ins Leere. Linde Unrein sieht in ihr eine Metapher für die Unsicherheit in einer Welt, in der selbst für Politiker der Konflikt das Normale sei. Die Umgebung, in der ihre Figuren stehen ist oft undefiniert.
Es gibt Stellen, gerade in „Mind the gap“, die an Sigmar Polkes Gemälde erinnern, in denen er seine Figuren zwischen Stoffe und Muster aus der deutschen Alltagswelt gesetzt hat. Auch in Linde Unreins dicht gewebten Bildhintergründen erkennen wir Bekanntes: einen Zaun, einen Vorhang, eine Bank, eine Bühne, Architekturfragmente. Aber letztendlich bleiben die Orte, in denen ihre Figuren agieren, rätselhaft. Unrein nennt jene Bilder und Gedichte, in denen ihre Gedanken so offen bleiben, dass jeder damit spielen kann – sie selbst und der Betrachter – „Sinnfelder“. Berechenbar ist ihre Entstehung nie. Das ist der Reiz daran. –

Menschen mit so sensiblen Antennen wie Linde Unrein sind einer unglaublichen Flut an Eindrücken und Gedanken ausgesetzt: in jeder Ausstellung, die sie besucht, jedem Buch, das sie liest, jedem Gespräch mit Gleichgesinnten, das sie führt, jeder Begegnung in ihrer Arbeit als Psychiaterin und Psychotherapeutin. In ihren Bildern und ihren Gedichten versucht sie, dieser Flut Herr zu werden und Zusammenhänge zu schaffen. Jedem neuen Thema nähert sie sich durch die Zeichnung. Intuitiv setzt sie eine Form, die im Zwiegespräch mit dem Papier langsam wächst. Die Formen verdichten sich. Danach hat sie das Bedürfnis nach Farbe, tastet sich über kleinere Pinselzeichnungen und neuerdings auch Collagen aus Resten von Zeichnungen vor, bis sie bereit ist für das große Format.

In ihren aktuellen Gemälden, den „Körperszenen“ geht es um Beziehungen. Genauer gesagt um das vielfältige Spiel an Beziehungen, die sich zwischen Menschen entwickeln können und die Frage, welche Assoziationen sie in uns auslösen. Was sehen wir: Im ersten Gemälde vier Figuren. Nackt. Eine blickt uns unverwandt an, ein Geschundener liegt am Boden, darüber zwei Figuren in einer Haltung, die an eine Pieta erinnert. Auf dem zweiten Bild ein Paar, vielleicht auf einer Bühne. Sie scheint etwas über ihn zu sagen. Auf dem dritten: Eine Frau hält einen Schwachen, ein Mann liebkost einen anderen, im Hintergrund Menschen auf der Flucht. Schauen Sie es sich an. Vielleicht sehen Sie etwas anderes. Nicht alles, was wir sehen, nicht alles was wir denken, lässt sich in ein System einordnen – auch wenn wir uns danach sehnen. Manchmal müssen wir unsere Unsicherheit, unsere Überforderung akzeptieren, auch die Tatsache, dass unser Gegenüber Dinge anders einschätzt.
Manchmal bringt etwas, das wir so eifrig tun, einfach nichts, wie jener Versuch eines Patienten, den Linde Unrein Matthias W. nennt. Über Jahre hat er zu jeder Stunde notiert, was er tut. Es war sein Versuch, eine Struktur in sein durcheinander geratenes Leben zu bringen. Linde Unrein hat diese Therapiepläne überzeichnet, hat freie farbige Formen darüber wachsen lassen. Hat nicht ausgelöscht, was Matthias W. antrieb, sondern seinen Versuchen, Ordnung zu schaffen, ihre eigenen Versuche gegenübergestellt. Ihre Phantasie, sagt sie, wird durch das Begehren geleitet. Ich interpretiere das einerseits als pure Lust am Zeichnen und Malen, der sie sich in der behüteten Atmosphäre ihres Ateliers hingibt. Aber dieses Begehren drückt doch auch ihren unstillbaren Wunsch aus, über die Kunst Antworten zu finden.

Linie und Fläche, Gegenstand und Abstraktion, die Verbindung zwischen beidem zu schaffen ist jedes Mal aufs Neue die Herausforderung. Linde Unrein braucht beides, die Zeichnung und die Malerei – und an beides stellt sie große Anforderungen. Sie arbeitet intuitiv und höchst konzentriert, beschreibt es selbst wie einen Strudel, der sie ganz ausfüllt, in dem es keine anderen Gedanken mehr gibt, auch keine Fragen.
Es ist ein glücklicher Zustand, in dem es weder die Zweifel gibt noch die kritische Distanz der Wissenschaftlerin. Die Reflexion über die Arbeiten, die kritische Distanz, die Frage, ob es ihr gelungen ist, einen Zusammenhang deutlich zu machen, klarer zu sehen, wo sie selbst steht und wohin es sie treibt, die kommt immer hinterher, aus einem anderen Bereich des Gehirns, einem anderen Bewusstseins-Zustand.

Alle Figuren, die in ihren Bildern auftauchen, entstammen ihrer inneren Welt. Sie nennt sie Personage, in Anlehnung an die Bildhauerin Louise Bourgeois. Jeder Mensch hat seine eigene innere Welt, die von Bildern und Gestalten bevölkert ist. Aus ihrer therapeutischen Arbeit weiß Linde Unrein, dass manche Menschen keinen Zugang dazu haben, bei anderen ist diese Welt verödet. Manche finden diese Figuren hilfreich, andere bedrohlich. Wie bedeutsam diese neuropsychologische Dimension für ihr bildnerisches Arbeiten ist, wollte Linde Unrein lange nicht wahrhaben. Aber seit einigen Jahren akzeptiert sie, dass es gerade der dreidimensionale interdisziplinäre Zugang von Neuropsychologie, Malerei/Zeichnung und Lyrik ist, der ihr einen tieferen Zugang ermöglicht.

Katharina Winterhalter