Das Reale, das Unmögliche

Text Prof. Dr Dr H. Lang
„das Reale – das Unmögliche“

Als „Sprachwesen“, „animal symbolicum“, hat der Mensch nur einen vermittelten Bezug zur Wirklichkeit, zur „Realität“. Man denke beispielsweise nur an die Problematik, adäquate Partner zu finden. Bei dieser „Partnervermittlung“ sind heute ganze symbolisch, das heißt sprachlich konstituierte Internetindustrien am Werke. Das bedeutet, dass der Mensch zugleich einem fundamentalen Mangel, einer Leere ausgesetzt ist, die wir mit Lacan als „das Reale“ bezeichnen können. Diese Leere zu füllen ist „unmöglich“. Ein totales Befriedigungsobjekt entzieht sich wie das Kantsche „Ding an sich“. Doch „Nihil est …“ heißt es in einem Gemälde Linde Unreins von 2006. Denn aus dieser Leerstelle begehren wir, sie ist wie ein Sog, der unser Leben vitalisiert, verbinden wir doch mit der „Füllung“ dieses „Loches“ höchste Lust, versuchen zu negieren, dass wir als Sterbliche „dem Realen“, d.h. nie zu Erreichenden, als „Unmögliches“ begegnen. Wir füllen es deshalb mit Phantasien, mit Bildern. Die „Blaue Blume“ der Romantik, dargestellt auf einer Collage Linde Unreins aus den Jahren 1998-2000 steht für diese Sehnsucht. Nicht minder die Sehnsucht nach dem „höchsten Gut“, verkörpert im Himmlischen Vater, in Gott, steht er doch für die absolute Affirmation und Fülle. „Mein Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir.“ Der „Name des Vaters“ von 2006 verweist auf diese Matrix der Vollständigkeit, die schon seine Stellvertreter mit ihrem Dogma der Unfehlbarkeit beanspruchen. Dabei merken sie nicht, dass über ihrem Gralskelch eine Narrenkappe schwebt, verbirgt sich doch hinter ihr nichts anderes als das „Reale“, das „unmöglich“ zu fassen ist. Vielleicht noch am ehesten im Sinne „negativer Theologie“: „Gott, der ist, ohne zu sein.“ Dass der „Name des Vaters“ vielleicht nur eine Leerstelle bedeutet, diese „Enthüllung“, wie ein weiteres Gemälde betitelt ist, fürchten wir,wie das entsetzte Gesicht vermittelt, verweist der verzerrt gezeichnete Judenstern vielleicht auf Auschwitz, das wie kein anderes Phänomen die Theodizeefrage stellte.

Der Glanz eines Bildes, insbesondere wenn es so farbig wie bei Linde Unrein ausfällt, kann so faszinieren, zur „Augenweide“ werden, das wir vor einer Totalität, Vollkommenheit zu stehen scheinen, das Reale, das Erschreckende ausgeschlossen scheint. Dass dem nicht so ist, hat Lacan an Holbeins „Gesandten“ gezeigt. In voller Pracht begegnen uns diese Repräsentanten von Staat und Kirche. Doch vorne im Bild sehen wir ein merkwürdiges, rätselhaftes Gebilde. Der Betrachter schüttelt quasi den Kopf, es lässt ihm keine Ruhe, beim Weggehen schaut er von der Seite noch einmal zurück – und sieht einen Totenschädel. Diese „Anamorphose“ verändert das ganze Bild. Der ganze Prunk der Insignien von Macht und Wissenschaft scheinen jetzt fast lächerlich – angesichts der Gewalt, die jetzt das Bild plötzlich auf uns ausübt, so als blicke es uns selbst an, angesichts dessen, dass wir uns jetzt mit dem Tod, dem Nichts, dem Realen schlechthin konfrontiert sehen. Im Sinne des „momento mori“ verweist es auf unsere eigene Nichtigkeit. Dagegen setzen wir Altäre – ein mehrmals wiederkehrendes Motiv unserer Künstlerin -, vermeintlich ewige Institutionen wie Staat und Kirche, das Phantasma der Unsterblichkeit, doch auch auf diesen Altären wird geopfert, droht der Absturz in den Abgrund. Verdrängung dieser Gefährdung oder ein „Halbwissen“ ist eine urmenschliche Lebenshaltung, wie es ein anderer berühmter Schweinfurter in seinen Gedichten ausgedrückt hat:

„Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen!

Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!

Der Tag ist schön! O sei nicht bang!

Sie machen nur einen weiten Gang.“

Das waren die ersten Verse eines der berühmten Kindertotenlieder Rückerts, die Mahler so beklemmend düster vertont hat. Dem Realen in Form des Nichts können wir nur mitigiert, abgeschwächt begegnen, in einer gebändigten Form kann es dann seine kreative Potenz entfalten. Ein Lieblingsmotiv Linde Unreins sind zweifelslos Krüge und Schüssel. Ein Krug ist, wie Lacan im Anschluss an Heidegger aufgezeigt hat, um eine Leere, Offenheit komponiert. Diese Leere hat keine Materialität und ist doch eine strukturierende Instanz, die jeder Füllung vorausgeht, ja ihre Bedingung ist.

Es ist das Paradox menschlicher Existenz, dass sie in der Begegnung mit dem nicht zu begreifenden und nicht zu imaginierenden Realen nicht die Begegnung mit dem Schrecklichen schlechthin fürchtet, sondern, analog zur Füllung des Kruges, absolute Lust phantasiert. Beispielsweise in einer „amour fou“ unbedingten Liebesverlangens, wobei der Andere mehr und mehr als das einzig erfüllende „Ding“, das heißt als Füllung des Realen, der Leere intentiert und gesehen wird. Die Subjektivität des Anderen, dessen eigener Wille, die gerade auch seine Rätselhaftigkeit einschließt – ich verweise auf das Gemälde „die rätselhaften Anderen“-, wird negiert, die totale Einvernahme gefordert, um das Begehren endlich in einer absoluten Weise zu stillen – eine Katastrophe ist das Resultat dieser vermeintlichen Glückseligkeit. Denken wir hier nur an Don José und Carmen, Werther und Charlotte, Othello und Desdemona, Tristan und Isolde etc. etc. „Geglücktes“ oder einigermaßen katastrophenfreies Leben setzt die Akzeptanz dessen voraus, dass es ein absolut erfüllendes Objekt nicht gibt, dass das „Reale“ als „Unmögliches“ gesehen und bejaht wird. Nur in dieser Akzeptanz des „Realen“ als „unmöglich“ zu Füllendes, wird der Mensch auch genießen können, wenn auch nur im Sinne einer „kleinen Freiheit“, hat er die Chance, auch als „Paar im Gleichgewicht“ zu existieren. Ich darf hier auf die entsprechenden Gemälde verweisen.

Wer sich dem widersetzt, für den kann, wie im Altarbild 6 dargestellt, der Flug in den Himmel zum Absturz in die Hölle werden. Entsprechend formuliert es eine Inschrift auf der Burg Cochem: „Begehre nie ein Glück zu groß und nie ein Weib zu schön,/sonst könnte dir’s in seinem Zorn der Himmel zugestehen.“ „Wie viel du wünschen magst, der Wunsch wird weitergehen“ heißt es bei Rückert in einem seiner Sprüche aus „Die Weisheit des Brahmanen“. Wenn er dann weiter formuliert „Glück ist da nur, wo die Wünsche stille stehen“, dann trifft er nicht mehr das Wesen des lebenden Menschen. Im Lichte der Weisheit des Brahmanen mag das als Nirwana erscheinen, für uns ist dies zugleich der Tod. Für den Menschen als Existierenden trifft die Wesensbestimmung, die Spinoza gegeben hat, weit eher zu: „Begehren ist des Menschen Wesen selbst“.

Es ist das Privileg des Künstlers in seinem Begehren dem riesigen Bereich des Realen, dem bislang nicht Symbolisierten und Imaginierten, Bereiche abzugewinnen, ähnlich den Niederländern, die, wie Freud einmal gesagt hat, ihr Land dem Meer abgerungen haben. Es ist das Privileg des Künstlers hier weiter als andere zu kommen. Um gleich einem „Prinzen Vogelfrei“ sich „Nach neuen Meeren“ aufzumachen, bedarf es vielleicht, übrigens wie bei Rückert, eines Brotberufes, obwohl dieser, wie ihn unsere Künstlerin ausübt, auch auf die schreckliche Kehrseite des Realen stößt – denken wir nur an die Tragödie der Technischen Universität in Virginia. Doch kehren wir zum Nietzsche-Gedicht zurück:

Dorthin – will ich; und ich traue

Mir fortan und meinem Griff.

Offen liegt das Meer, ins Blaue

Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,

Mittag schläft auf Raum und Zeit -:

Nur dein Auge – ungeheuer

Blickt michs an, Unendlichkeit!

Es ist das Privileg des Künstlers in das Auge dieser Unendlichtkeit, dieser Leere, länger blicken zu können. Kunst ist durch das Privileg dieser Näherung ausgezeichnet. „Jede Kunst ist durch eine bestimmte Art der Organisation um eine Leere charakterisiert“ heißt es bei Lacan; in entsprechende Verse umgesetzt dann bei Rilke: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.